Goethe in meiner Familie 1/Es überbraust der Sturm

goethe
von Ferdinand Graziotto
– Betritt man unsere Wohnung und schaut dabei auf den Fußabstreifer, so wird man mit „Salve“ begrüsst. Wer nun weiß, dass meine beiden Eltern Lateinlehrer sind und sich gern und viel mit der Antike auseinandersetzen, wird sich darüber nicht weiter wundern. Doch auch eine andere Assoziation stellt ein weimarkundiger Besucher natürlich sofort her: Nach antikem Vorbild findet  sich das ‚SALVE‘ als Willkommensgruß für den Besucher auf der hölzernen Schwelle zum gelben Saal des Goethehauses am Frauenplan. Beide Verbindungen sind richtig, ist doch besonders mein Vater ein großer Bewunderer des Meisters der Weimarer  Klassik, der sich seinerseits seit seiner Italienreise besonders der Antike zugewandt hatte.

So kam ich schon als kleines Kind immer wieder mit Goethe in Berührung. Eine kleine Büste stand und steht auf dem Schreibtisch meines Vaters. Die Kopie eines bekannten Bildnis von Joseph Karl Stieler hängt ebenfalls im Arbeitszimmer. Das 1828 entstandene Gemälde zeigt den schon älteren Goethe. Eine unserer Türen ziert die Abbildung eines Blickes in das haus am Frauenplan.
Besonders liebt mein Vater einen Kalender, der Bilder zu Stationen der Italienreise Goethes mit Zitaten des Meisters verbindet. Die schönen Fotografien begleiten uns immer durchs Jahr, auch wenn der Kalender selbst nicht mehr aktuell ist. Schon früh lernten meine Schwester und ich, einige seiner Gedichte und Balladen kennen, die meine Schwester auch immer gern auswendig lernte und vortrug. Daneben wurden uns für Kinder bearbeitete Nacherzählungen des Faust und des Götz von Berlichingen vorgelesen. Wir erfuhren, dass unsere Mutter eine Zeit lang mit einem gleichnamigen Nachfahren des berühmten Raubritters zur Schule gegangen war und wurden auf jeder Fahrt zu meinem Großvater beim Überqueren der Jagst auf die Nähe der Götzenburg hingewiesen. Eine kindergerechte Biographie brachte uns das Leben des Dichterfürsten näher. Als kleinere Kinder begleiteten wir unsere Eltern ein paar Mal nach Weimar, doch meine Erinnerung hieran sind ziemlich verschwommen. Mein Vater war aber aus verschiedenen Anlässen recht oft in der Stadt, in der sein Lieblingsschriftsteller, wie er ihn nennt, einen Großteil seines Lebens zuhause war.
Nun wollte ich anhand eines Interviews besser und gezielter verstehen, welche Bedeutung Goethe und Weimar für meinen Vater haben. Ich gebe im Folgenden meine Fragen samt seinen Antworten wieder:
Warum ist dir Goethe so wichtig und was schätzt du besonders an ihm?
Die große „Begegnung“ meines Lebens war die mit dem Schweizer Theologen Hans Urs von Balthasar (1905-1988), der das Gesamtwerk von Goethe mehrmals (!) gelesen hat. Über ihn hat er in seinem  Jugendwerk, „Apokalypse der deutschen Seele“ (1937) und in seinem späteren Werk „Im Raum der Metaphysik“ (1965) sehr viel und sehr Gutes geschrieben. „Goethe, der nicht nur die „Goethezeit“, sondern das 19. Jahrhundert prägt, weiß sich in ruhiger und doch oft banger Gewissheit als Fels des Widerstandes in reißender Gegenströmung“ (Balthasar, 1965). Ich erlebte in meiner Jugend eine politische Auseinandersetzung mit der ganzen Generation der so genannten 68er hautnah mit. Um dir in Beispiel zu machen, was das hieß: Vor meiner Schule hatte die terroristische linke Gruppe der „Roten Brigaden“ (so etwas wie die „Rote Arme Fraktion“ in Deutschland) ihre Faltblätter am Boden liegen lassen. Zuerst war ich fasziniert von diesen revolutionären und prometheischen Idealen, aber gottlob hatte ich in meinem Inneren eine „positive Seinserfahrung“ gemacht, die in der „Gegenströmung“ standhielt. Als ich dann las, wie Balthasar über Goethe schrieb: „Das Innerste seiner positiven Seinserfahrung und deren Gestaltwerdungen verdanken sich einem elementaren Nein, das sie herausmeißelt“, da wusste ich: Dies ist mein Autor! Sein ‚Nein’ galt einem „platten Materialismus“: „Wie hohl und leer ward uns in dieser tristen atheistischen Halbnacht zumute“ (Dichtung und Wahrheit 3, 11). Leider Gottes war der linke Terrorismus des letzten Jahrhunderts nur eine Vorahnung des heutigen. Die Halbnacht ist fast zu einer vollkommen Nacht geworden. Die letzte Antwort auf diese Finsternis ist für mich Christus, der ein barmherziges ‚Ja‘ zu uns allen ausspricht. Was das bedeutet sieht man in der Gestalt eines Papstes wie Franziskus. Auf einer mehr anthropologischen Ebene ist aber Goethe, wenn auch nicht so sehr durch seine „Biographie“,  sondern durch seine „literarischen Sendung“ eine echte Hilfe. Sein auf Grund eines „Ethos des adeligen und entsagenden Herzen“ (Balthasar, 1965) ausgesprochenes ‚Nein‘ „gegen die französische Revolution“ nach Überwindung seiner prometheischen Phase, war für mich pures Licht: Nicht eine Revolution, sondern nur eine Geisteshaltung der Entsagung ermöglicht eine echte Authentizität im Leben.
Gibt es eines seiner Werke, das dich mehr beeindruckt hat als andere und, wenn ja, welches?
Wenn ich mich unbedingt auf ein Werk festlegen müsste, würde ich die ‚Wahlverwandtschaften‘ nennen, die ich schon zweimal gelesen habe und deren ungekürzte Fassung auf CD wir ja zur Zeit auch bei unseren längeren Autofahrten hören (dies ist für mich dann also schon das dritten Mal), aber der Wilhelm Meister und besonders die Gestalt von „Mignon“ faszinieren mich nicht weniger. Bleiben wir aber bei den ‚Wahlverwandtschaften‘. Hier wird die eheliche Liebe, wie sie sich damals und heute noch mehr in allen ihren widersprüchlichen Dimensionen vor unseren Augen abspielt, dargestellt. Ein Ehepaar, Eduard und Charlotte, empfängt zwei Gästen: die junge Ottilie und den Major.  Eduard verliebt sich in Ottilie und Charlotte in den Major. Eduard ist überhaupt nicht willig auf Ottilie zu verzichten. In einer Nacht vollziehen Eduard und Charlotte den Beischlaf, in dem aber beide an den jeweiligen anderen denken. Charlotte empfängt ein Kind, es wir später bei einem tragischen Unfall sterben. Ohne zu moralisieren – die einzige moralisierende Gestalt des Romans, der Mittler, der sich in der Region engagiert, wenn eine Ehe in Krise gerät, hat nichts von der Ruhe, die Goethe als Ideal gesehen hat –  stellt der Verfasser eine dramatische Realität dar. Eine Realität, die sich heute in unseren fast vollständigen Nacht noch verschärft hat. Auch hier gilt: Nicht eine „Revolution“, sondern nur eine  Geisteshaltung der Entsagung – und das hat mit Masochismus nichts zu tun – ermöglicht eine echte Authentizität im Leben.
Du hast uns Kindern viel von und über Goethe vorgelesen. Warum war dir das so ein wichtiges Anliegen?
„Es überbraust der Sturm die zarte Stimme“, lässt Goethe die Iphigenie sagen. Die zarte Stimme unseres Ichs wird in der „tristen atheistischen Halbnacht“, die, wie gesagt, m. E. heute eine fast vollständigen Nacht geworden ist,  – das hat damit nicht zu tun, dass man psychologisch auch Freuden empfinden kann – fast vollständig ‚überbraust‘. Man braucht dagegen auch eine starke literarische Nahrung: Goethe ist sicher eine Form dieser starken literarischen Nahrung. Ein Freund in Bayern sagte mir, dass für ihn Goethe gut zum „Einpennen“ sei. Mag sein. Für mich war es nicht so, seine Sprache wirkt auf mich sogar mit therapeutischer Kraft. Dank ihr gelang es mir bei der Lektüre meine Müdigkeit zu überwinden oder gar Kopfschmerzen los zu werden. Wie dem auch sei: Wenn es unsere leistungsorientierte Welt uns nicht mehr ermöglicht Klassiker wie Goethe zu lesen, da wir zu müde sind (Byung-Chul Han spricht gar von einer Müdigkeitsgesellschaft), ist die Zeit gekommen, ganz dringend etwas zu ändern. Die Frage ist also für mich nicht, ob Goethe angesichts unseres Zeitalters aktuell ist, sondern ob unsere Zeitalter Kräfte zum Sinn des Lebens mobilisieren kann ohne „Goethe“. Euch einen Zugang zu dieser literarischen Nahrung zu erschließen bevor die Welt euch ‚überbraust‘ und die zarte Stimme eures Ichs zunichte macht, war uns wichtig. Wir wollten damit in einer Lebensphase beginnen, die noch von Neugier und Offenheit und nicht von Vorurteilen geprägt war. Dabei hat ihr euch immer gern und willig auf diese Vorschläge eingelassen.

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